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crh 2013 11 06 - 2015 05 02

Internationale Wirtschaftshilfe und ihre Grundlagen
Fundamentals of International Economic Aid

Von/by Dr. Christian Heinze, München


ursprünglich veröffentlicht in / originally published in „Forum der Freien Welt“, Verlag Freie Welt Edwin Federmann, Illertissen, 1963 Heft 2 S. 105-110

mit einer Einleitung von 2013 und ergänzt durch einen Anhang gelegentlicher Anmerkungen / with an introduction of 2013 and supplemented with later occasional observations.



Einleitung (2013).

1 Der hier wiedergegebene Aufsatz wurde vor einem halben Jahrhundert geschrieben, als internationale Wirtschaftshilfe noch in ihren Anfängen lag. Der Verfasser hat ihn als junger Jurist aus Anschauungen entwickelt, die er damals während einer Stage bei einer internationalen Wirtschaftsorganisation und aus seiner Tätigkeit in einem weniger entwickelten Land am Rande Europas gewonnenen hat. Einige Ansichten bedürfen sicherlich der Differenzierung oder Relativierung, andere sind womöglich überholt. The article reproduced hereunder was written half a century ago when international economic aid was still in its beginnings. As a young jurist, the author has developed it from perceptions received while serving a stage with an international economic organization and from his engagements in a less developed country situated at the boundaries of Europe. Some opinions are certainly in need of further differentiation or relativation, others are probably outdated.
2 Für weiterhin gültig hält der Verfasser allerdings Grundgedanken wie diejenigen,

- daß alle Maßnahmen auf das - sei es auch entfernte - Ziel optimaler Produktion und Verteilung von Gütern und Leistungen grundsätzlich nach Angebot und Nachfrage in Frieden und Freiheit ausgerichtet sein müssen und staatliche Intervention nur subsidiär zulässig ist,

- daß daraus die Priorität der Errichtung einer Marktwirtschafts-Infrastruktur folgt,

- daß der Zusammenhang zwischen Leisten und Haben jederzeit transparent gewährleistet bleiben und

- daß es jedermann und allen Völkern vorbehalten bleiben muß, im Rahmen des für das Zusammenleben Notwendigen seinen Leistungsbeitrag und damit den ihm im Austausch zuwachsenden Anteil an Gütern und Leistungen selbst zu bestimmen.

Dies zu gewährleisten bedarf es entsprechend verfaßter Staaten. Zu diesem Zweck kann und muß daher Wirtschaftshilfepolitik auf die Schaffung geeigneter Wirtschaftsrechtsordnungen hinwirken. Sie darf dabei einerseits die erwähnte Selbstbestimmung über Leisten und Haben nicht aufheben, muß aber andererseits auf Einhaltung der Bedingungen für freien Ausgleich von Angebot und Nachfrage bestehen.
However, the author considers as still valid basic ideas like the principles

- that all measures must be aimed at the - albeit distant - goal of optimal production and distribution of goods and services aqccording to demand and offer in peace and liberty and that only subsidiary State intervention is permissible,

- that therefrom derives a priority for the establishment of a market economy infrastructure,

- that the relationship between labour and possession must remain transparently established at all times and

- that everyone and all peoples must remain entitled to determine, within the limits of the necessities of cohabitation, the amount of labour they are willing to contribute and thereby to determine es well the share of goods and services provided to them in exchange for it.

To warrant this, adequately constituted States are required. To this end, economic aid is able and must promote the creation of qualified legal systems of the economy. It may not interfere with self-determination concerning possession and the input of labour mentioned before, but it must insist on the observation of the conditions for free exchange of demand and offer.
3 Einer Ergänzung bedürfen die Ausführungen des Aufsatzes von 1963 und die vorstehenden Grundsätze insofern, als sie erstlinig auf Wirtschaftshilfe mit dem Ziel einer Annäherung unterversorgter Länder an den Wohlstand von Industrieländern gerichtet ist. Es muß jedoch allen Völkern vorbehalten bleiben, die vorübergehende oder dauerhafte Erhaltung ihrer hergebrachten Gesellschafts- und Wirtschaftsformen vorzuziehen. Soweit das geschieht, muß Wirtschaftshilfe vorsichtig und gründlich diesen Formen entsprechend gestaltet werden. The deliberations of the article of 1963 need to be supplemented insofar as they are primarily concernd with the objective of economic aid of achieving approachment of undersupplied countries to the wealthy standard of industrial countries. However, all peoples must remain free to prefer the provisional or perpetual conservation of their traditional social and economic organisation. Where such preference prevails, economic aid must be shaped darefully and thoroughly according to that organisation.
4 Gegenwärtig steht bereichsweise die Auswirkung der Verfügung über Bodenschätze auf die Wirtschaftsentwicklung unterversorgter Länder im Vordergrund des Interesses. Optimale Produktion und Verteilung von Gütern und Leistungen setzt voraus, daß Bodenschätze allen zugute kommen und nicht zur Beute willkürlicher Mächte werden. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der Staatsverfassung und Wirtschaftsrechtsordnung hilfsbedürftiger Länder für Möglichkeiten und Fehlerquellen internatinaler Wirtschaftshilfe besonders deutlich. Presently, in some parts, the influence of disposition over natural resources on the economic development of undersupplied countries have moved into the center of interest. Optimal production and distribution of goods and services requires that natural resources serve the needs of all and do not become the prey of licentious powers. In this connection the importance of the lelgal system of the economy of countries in need of international economic aid for the possibilities and risks of failure of international economic aid is particularly obvious.
5 Es kann nicht bezweifelt werden, daß einige Mißerfolge internationaler Wirtschaftshilfe auf Verfehlung von Grundsätze zurückgehen, wie sie im Aufsatz von 1963 erörtert und oben angedeutet sind. Insbesondere wo sie zur Förderung partikulärer oder kurzfristiger politischer oder außerökonomischer Interessen von ihren Grundsätzen abweicht, gefährdet Wirtschaftshilfe die Erreichung ihres Endziels international optimaler Produktion und Verteilung von Gütern und Leistungen in Frieden und Freiheit. There can be no doubt that some failures of international economic aid are due to a disregard of principles as are discussed in the article of 1963 and touched upon above. In particular, where economic aid deviates from its principles in order to serve particular or short term political or extra-economic interests, the achievement of its final goal of optimal production and distribution of goods and services in peace and liberty is endangered.


Text des Aufsatzes von 1963.

1 Die Vermehrung und die bessere Verteilung der Güter ist gegenwärtig eines der ersten Ziele staatlicher Politik in aller Welt. Neben das Postulat der Vermehrung und Umverteilung der Güter Innerhalb der Staaten, das die Geschichte der Industrieländer im vergangenen Jahrhundert bestimmt hat, tritt seit dem zweiten Weltkrieg das Problem der Verteilung der Güter unter die Völker. Die Welt nimmt davon Kenntnis, daß ein Tell der Menschheit In Überfluß lebt, während ein anderer, größerer Tell unzureichend versorgt ist. Die Industrieländer halten diesen Zustand eines Ausgleichs für bedürftig und sind entschlossen, diesen Ausgleich zu fördern. Die Probleme des internationalen Versorgungsausgleichs sind denen des sozialen Ausgleichs innerhalb der Industrieländer in bemerkenswerter Weise verwandt (1). Die Im vergangenen Jahrhundert in den Industrieländern gewonnenen sozialpolitischen Erfahrungen und Lehren sind daher geeignet, den internationalen Versorgungsausgleich zu erleichtern.
2 Ein Mittel des internationalen Ausgleichs ist die sogenannte Entwicklungshilfe. Als „Entwicklungshilfe" wird gemeinhin der Inbegriff der Maßnahmen bezeichnet, welche die Güterversorgung der Mangelgebiete von außen her verbessern sollen.
3 Von den denkbaren Motiven solcher Hilfeleistung sind drei besonders einleuchtend: Erstens das Motiv, durch die Hilfeleistung den Empfänger zum Verzicht auf gewaltsame Beraubung des wohlversorgten, hilfegewährenden Landes zu bestimmen oder sogar zu einer politischen Unterstützung dieses Landes zu gewinnen und dadurch Sicherheit und Wohlstand des Geberlandes zu schützen (politische Begründung); zweitens, die Absicht, durch Eingliederung des unterversorgten Landes in die Weltwirtschaft Güterproduktion und -austausch und damit den allgemeinen Wohlstand, u.a. sowohl des die Hilfe empfangenden als auch des sie gewährenden Landes zu fördern (ökonomische Begründung); drittens die Überzeugung, daß die Bereitstellung und richtige Verteilung einer die Bedürfnisse aller Menschen deckenden Gütermenge eine der Menschheitsaufgaben sei (humanitäre Begründung). (2)
4 In der Theorie überwiegt die humanitäre Begründung der sogenannten Entwicklungshilfe. In partieller Übereinstimmung der humanitären Grundlegung der In West und Ost herrschenden Sozialphilosophien haben beide Hemisphären eine weltweit richtige Güterversorgung zum Ziel ihrer Politik erklärt (3). Für diese Zielsetzung, die aus den Axiomen der Gleichheit und Brüderlichkeit (Solidarität) der Völker hergeleitet wird (4), spricht aber auch die politische Vernunft und die geschichtliche Erfahrung. Ein erhebliches Wohlstandsgefälle zwischen benachbarten politischen Gemeinwesen kann allenfalls mit Waffengewalt aufrechterhalten werden und ist oft Ursache der Zerstörung zumindest eines der beiden Gemeinwesen und seines Reichtums geworden. Auch zeigt der Verlauf der sozialen Revolutionen und Evolutionen in den Industrieländern zur Evidenz, daß dem Streben nach gleichmäßiger Güterverteilung weder mit Gewalt noch durch Bestechung auf die Dauer wirksam entgegengetreten werden kann. Überdies hat sich erwiesen, daß Waffengewalt zur Aufrechterhaltung eines verteilungsmäßigen status quo nur noch beschränkt einsatzbereit und brauchbar ist. Der moderne Zustand weltweiter Nachbarschaft (5) läßt im Hinblick auf diese Gefahren den idealen Altruismus internationalsozialer Ausgleichsleistung zugleich als realistische Selbsterhaltungspolitik erscheinen. Die Industrieländer erhoffen sich als Wirkung der Hilfeleistung aber nicht nur erhöhte Sicherheit und die Verwirklichung humanitärer Ideale, sondern zugleich eine Förderung der eigenen Wirtschaft durch Erschließung neuer Handelsgebiete (6) und neuer Investitionsmöglichkeiten. Die humanitäre, die politische und die wirtschaftliche Begründung der sogenannten Entwicklungshilfe sind In der Staatenpraxis miteinander verschmolzen (7).
5 Zu befriedigen vermag letzten Endes nur eine humanitäre Begründung der Hilfeleistung, auch wirtschaftliche und politische Zielsetzungen haben nur insoweit Berechtigung und Aussicht auf dauerhaften Erfolg, als sie humanitär begründet sind. Das gilt insbesondere, wenn der angestrebte Erfolg in der freundschaftlichen Haltung von Menschen und Völkern bestehen soll (8). Deshalb ist als Zweck der sogenannten Entwicklungshilfe, auch soweit sie wirtschaftlich oder politisch begründet werden soll, letzten Endes die richtige Güterversorgung aller Menschen anzusehen.
6 Das Ziel der Hilfeleistung ist damit allerdings nicht eindeutig bezeichnet. Die Kennzeichnung des Zustandes richtiger Güterversorgung setzt vielmehr die Definition von Merkmalen voraus, nach denen das richtige Maß der Versorgung bestimmt werden kann. Ist das Ziel eine weltweite Versorgungsordnung, so müssen diese Merkmale allgemein gelten. Verhältnismäßig wenig Schwierigkeiten bereitet die Ermittlung eines Mindestmaßes von Gütern, die dem Einzelnen ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Die Bestimmung des erstrebten Versorgungszustandes reduziert sich hier zu einer medizinisch-soziologischen Subsumtion; diese Aufgabe wird in den Industrieländern im Rahmen der obrigkeitlichen Armenfürsorge mit Selbstverständlichkeit bewältigt.
7 Solange das Existenzminimum nicht allen Menschen gewährleistet Ist, kann von einer richtigen Güterversorgung gewiß keine Rede sein. Da dieses (regional durchaus unterschiedliche) Mindestmaß an Gütern tatsächlich nicht allen Menschen zur Verfügung steht, Ist damit die erste Teilaufgabe einer Güterumverteilung erkannt. Geht man von dem Gedanken der Solidarität aus, so gilt eine subsidiäre Hilfepflicht: Die wohlversorgten Völker haben der Bevölkerung der unterversorgten Länder das Existenzminimum unentgeltlich zur Verfügung zu stellen (9). Die Hilfepflicht ist subsidiär: sie ist nur insoweit anzuerkennen, als die unterversorgten Völker nicht in der Lage sind, sich das Existenzminimum selbst zu verschaffen.
8 Die Erkenntnis dieser Hilfepflicht zeigt zugleich, daß die Bezeichnung „Entwicklungshilfe" zu eng ist, um alle internationalen Versorgungsaufgaben zu erfassen. Um diese Aufgaben zu bezeichnen, sollte von „internationaler Wirtschaftshilfe" gesprochen und innerhalb dieses Oberbegriffs zwischen „Nothilfe" und „Entwicklungshilfe " unterschieden werden. Dabei sind unter Nothilfe die Maßnahmen zu verstehen, die darauf gerichtet sind, das Existenzminimum zu gewähren.
9 Da die Kapazität der Weltwirtschaft die minimalen Lebensbedürfnisse Aller übersteigt, gewinnt die Frage nach dem richtigen Maß der Güterversorgung Ihre eigentliche Bedeutung für die Bereitstellung und Verteilung der das Existenzminimum übersteigenden Gütermenge. Diese Frage betrifft sowohl die Gütermenge, die zur Versorgung Aller Insgesamt bereitgestellt werden sollte, als auch den Maßstab Ihrer Verteilung auf die Völker und die einzelnen Menschen.
10 Ziel der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftpraxis der Überflußländer ist Vermehrung der Güter schlechthin. Der Güterbedarf erscheint nach dieser Zielsetzung prinzipiell unbegrenzt. Dieser Ausgangspunkt ist fragwürdig, denn es ist durchaus ein Stand der Bedarfsdeckung denkbar, der es menschlicher erscheinen läßt, Energien für ideelle (z. B. wissenschaftliche oder bildende, Insbesondere ästhetische) Leistungen frei zu machen, statt sie für eine weitere Steigerung des Wohlstandes einzusetzen. Der Versorgungsstand eines Teils der Völker Europas und Nordamerikas legt die Frage nahe, ob diese Grenze der Wohlstandssteigerung nicht schon erreicht ist und ob nicht eine weitere Steigerung der Güterproduktion in überversorgten Gebieten nur durch den Mangel in anderen Teilen der Welt gerechtfertigt werden kann. Diese Frage kann jedenfalls nicht deshalb von der Hand gewiesen werden, weil der n den Industrieländern gegebene Zustand relativer Einkommens- und Güterverteilung nicht befriedigt, denn diesem Mangel könnte ohne Steigerung der Güterproduktion abgeholfen werden. Die Frage einer absoluten Begrenzung der Güterversorgung kann aber auf sich beruhen, weil sie im Hinblick auf die Lage der unterversorgten Gebiete alles andere als aktuell ist. Wichtiger erscheint zur Zeit das Problem des Maßstabes richtiger relativer Verteilung der zur Verfügung stehenden Güter.
11 Nach der Wirtschaftsphilosophie der Industrieländer ist das Kriterium des richtigen Anteils des Einzelnen an der vorhandenen Gütermenge die soziale (z. B. die wirtschaftliche, geistige oder kulturelle) Leistung. Die Gültigkeit dieses Leistungsprinzips beruht In den Industrieländern erstens auf der Überzeugung vom ethischen Wert der Leistung an sich (Leistungsethos), zweitens auf dem psychologischen Faktum einer aktiven Lebensauffassung (Leistungswille) und drittens auf dem Wohlstandstreben (1O), das nur durch die - Güter schaffende - Leistung befriedigt werden kann.
12 Der Leistungswille ist nicht bei allen unterversorgten Ländern In gleichem Maße vorhanden wie in den Industrieländern (11). Das Leistungsethos kollidiert mit den Weltanschauungen mancher unterversorgten Völker. Das Leistungsethos als weltanschauliches Gesetz hat daher keine Allgemeingültigkeit. Da die Freiheit zur Selbstbestimmung sich in erster Linie auf weltanschauliche und lebensphilosophische Grundfragen bezieht und nach der politischen Überzeugung des Westens als geistige Freiheit zu den wichtigsten unantastbaren Grundrechten der Völker gehört, findet der Geltungsanspruch des Leistungsethos in diesem Selbstbestimmungsrecht seine Grenze. Die Freiheit umfaßt das Recht, den Leistungswillen autonom zu begrenzen. Deshalb darf die Internationale Wirtschaftshilfe nicht dazu verwendet werden, den unterversorgten Völkern das Leistungsethos aufzuzwingen. Natürlich Ist es den Industrieländern unbenommen, für das Leistungsethos zu werben. Bei dem Einsatz der Wirtschaftshilfe als Werbemittel sollte jedoch große Zurückhaltung geübt werden, weil diese Hilfe erheblich diskreditiert werden könnte, wenn sie in den Verdacht geriete, sie diene dem Versuch, den unterversorgten Völkern die Ideologie des Fleißes einzupflanzen, um diesen Fleiß zugunsten der Industrieländer auszubeuten.
13 Wenn auch das Leistungsethos weder allgemein gilt noch seine, allgemeine Geltung mittels Internationaler Wirtschaftshilfe erzwungen werden soll, so muß dennoch das Leistungsprinzip als Grundlage der relativen Güterverteilung Allgemeingültigkeit beanspruchen (12). Zur Begründung reicht der oben in dritter Linie angeführte Grund für die Geltung dieses Prinzips in den Industrieländern aus: Die Allgemeingültigkeit des Leistungsprinzips beruht darauf, daß Leistung Voraussetzung der Bereitstellung und Verteilung von Gütern und damit der Bedarfsdeckung überhaupt ist. Infolgedessen muß auf einen Güteranteil verzichten, wer es ablehnt, durch seine Leistung zur Gütergewinnung beizutragen und wer auch keine Leistung erbringt, für die er einen Güteranteil eintauschen kann. Daraus folgt zugleich, daß die Freiheit zur Selbstbestimmung insoweit begrenzt ist, als jeder Einzelne die Pflicht hat, zumindest diejenige Leistung zu erbringen, die erforderlich ist, um das Existenzminimum Aller zu gewährleisten. Das Prinzip gilt gleichermaßen für die Einzelpersönlichkeit wie auch für die Völker.
14 Das richtige Maß relativer Güterverteilung ist also durch die soziale Leistung der sich um die Zuteilung von Gütern bewerbenden Einzelpersonen und Völker allgemeingültig bestimmt. Die praktische Anwendung des Leistungsprinzips setzt allerdings zweierlei voraus: Erstens muß für den Einzelnen und für die Völker tatsächlich die Möglichkeit gegeben sein, ihre Leistungsfähigkeit und ihren Leistungswillen zu realisieren, und zweitens muß ein Verfahren zur Verfügung stehen, mittels dessen der Wert der individuellen Leistung gemessen werden kann.
15 Die Voraussetzung der Leistungsmöglichkeit ist selbst in den Industrieländern nur unvollkommen gewährleistet. Denn sogar in der hochentwickelten Marktwirtschaft dieser Länder ist nicht jedermann zu jeder Zelt in der Lage, eine Einsatzmöglichkeit für seine Fähigkeiten und für seine Leistungskapazität zu finden. Diese Schwierigkeit ist selbstverständlich innerhalb der unterversorgten Länder und ihrem Verhältnis zu den Industrieländern besonders groß. Sie hat ihre Ursache weitgehend in objektiven Gegebenheiten, wie den geographischen und klimatischen Eigenschaften, den Bodenschätzen, der sozialen Verfassung und den Produktionsverhältnissen des Standorts. Diese objektiven Gegebenheiten kann auch der Leistungswille nicht beeinflussen. Ein Standortwechsel ist selbst in den Industrieländern und zwischen diesen Ländern noch nicht unbeschränkt möglich, an eine Freizügigkeit zwischen den unterversorgten Gebieten und den Industrieländern kann vorerst kaum gedacht werden. Aber selbst gewisse subjektive Leistungsvoraussetzungen entziehen sich der Einflußnahme des Leistungswilligen. So kann z. B. der Einzelne seine Leistungsfähigkeit ohne Schulungseinrichtungen nicht verändern.
16 Die zweite Voraussetzung der Anwendung des Leistungsprinzips, nämlich die Bestimmung des Leistungswerts, erfüllt in den Industrieländern mit marktwirtschaftlicher Verfassung die Automatik des Leistungswettbewerbs. Das marktwirtschaftliche System geht davon aus, daß auf dem freien Markt die höhere Leistung den höheren Lohn erhält und so zur Bevorzugung ihres Trägers bei der Güterverteilung führt. Das marktwirtschaftliche System autonomer Güterverteilung wird auch zwischen den Industrieländern angewendet, um eine auch international richtige Güterverteilung herbeizuführen. Die marktwirtschaftliche Automatik gewährleistet die richtige Güterverteilung aber selbst innerhalb der Industrieländer nur unvollkommen. Denn Markt und Wettbewerb unterliegen mannigfachen Wirkungen gewisser Fehlerquellen und Störungen und werden daher selbst in diesen Ländern durch heteronome (marktfremde) Maßnahmen ergänzt. Die Schwierigkeiten einer Marktwirtschaft sind innerhalb der unterversorgten Länder und in ihrem Verhältnis zu den Industrieländern noch erheblicher. Ein so komplizierter Versorgungs- und Verteilungsmechanismus wie die Marktwirtschaft setzt eine bestimmte, auf der Initiative des Einzelnen beruhende politische, soziale und wirtschaftliche Verfassung voraus. Diese Verfassung ist in den Industrieländern das gewachsene und erkämpfte Produkt spezifischer ethnischer und geographischer Faktoren und einer vielhundertjährigen bewegten Geschichte (l3). In den unterversorgten Gebieten ist sie weitgehend nicht vorhanden und kann sich dort auch jedenfalls nicht rasch genug autonom bilden. Wenn auch alle Anstrengungen der für die Entwicklung dieser Gebiete Verantwortlichen darauf gerichtet sein müssen, die Voraussetzungen der mit dem Selbstbestimmungsprinzip am besten vereinbarten Marktwirtschaft zu schaffen, kann daher gegenwärtig ein Zustand richtiger Güterverteilung unterversorgten Ländern nur mit Hilfe heteronomer Maßnahmen herbeigeführt werden.
17 Diese Erwägungen führen zur Erkenntnis der zweiten Aufgabe internationaler Wirtschaftshilfe, die neben die Aufgabe der Nothilfe tritt, und die man als Aufbauhilfe bezeichnen kann. Die Aufbauhilfe bildet den Kern der Entwicklungshilfe. Sie besteht darin, die Voraussetzungen für die Anwendung des Leistungsprinzips in den unterversorgten Ländern und für die Eingliederung dieser Länder in den autonomen Versorgungs- und Verteilungsmechanismus einer weltweiten Marktwirtschaft zu schaffen (l4). Das bedeutet in erster Linie, den Völkern jener Gebiete die Möglichkeit zur sozialen Leistung zu vermitteln (15). Das bedeutet ferner, in diesen Völkern ein leistungsgerechtes Verteilungssystem zur Funktion zu bringen. Gegenstand der Aufbauhilfe ist also die Errichtung einer die erstrebte richtige Versorgung ermöglichenden Infrastruktur. Dabei kann man zwischen geistiger und technischer Infrastruktur unterscheiden.
18 Voraussetzung richtiger Versorgung ist in erster Linie die Errichtung der für die Entwicklung der unterversorgten Länder unerläßlichen geistigen Infrastruktur (l6). Zur Errichtung der geistigen Infrastruktur gehört die Unterrichtung der unterversorgten Völker über die gesicherten, einhellig anerkannten, auch für die unterversorgten Länder gültigen Ergebnisse der Sozial-, Wirtschafts- und Naturwissenschaften der Industrieländer. Der Begriff dieser „Wissenschaften“ ist im weitesten Sinne zu verstehen: zur Sozialwissenschaft gehören neben der Jurisprudenz z. B. auch die Lehre von der Organisation der Verwaltung sowie Psychologie und Pädagogik; zur Wirtschaftswissenschaft gehören u. a. die Volkswirtschaftslehre, die Betriebswirtschaftslehre sowie die Lehre vom Währungswesen; zur Naturwissenschaft gehören Physik und Geologie ebenso wie die Medizin. Zur Errichtung einer geistigen Infrastruktur richtiger Güterversorgung gehört ferner die technische Ausbildung der unterversorgten Völker zur Anwendung der Wissenschaften (l7), insbesondere auch die Ausbildung in der Technik des Wirtschaftens und Verwaltens (l8). Die ungeheuren Schwierigkeiten der Unterrichtungs- und Ausbildungsaufgabe sind nicht zu verkennen. Sie beruhen vor allem auf den psychologischen und sozialen Gegebenheiten bei den unterversorgten Völkern. Voraussetzung ihrer Überwindung ist absolute moralische Integrität der Entwicklungshelfer (Lehrer und Arzt sind die gefährlichsten Verführer), insbesondere Selbstlosigkeit und Ehrlichkeit, die schon bei der Auswahl dessen beginnt, was als gesicherte Erkenntnis angesehen und gelehrt werden kann. Die Anwendung solcher Ehrlichkeit muß zur Erkenntnis der Relativität vieler Bestandteile unserer Wissenschaft führen. Die Erkenntnis dieser Relativität muß wiederum dazu befähigen, die den unterversorgten Völkern zu vermittelnde Lehre den Gegebenheiten der zu entwickelnden Länder anzupassen. Es muß gelingen, für jedes unterversorgte Land den Kernbestand einer adäquaten und funktionsfähigen geistigen Infrastruktur zu konstruieren und zu errichten (19). Soweit die soziologischen und psychologischen Gegebenheiten eines unterversorgten Landes die Entwicklung einer auf dem Prinzip individueller Selbstbestimmung aufgebauten sozialen Infrastruktur noch behindern, müssen dabei die Erkenntnisse der Wissenschaft der Industrieländer auch als Grundlage der Konstruktion einer anderen, angemessenen Übergangs-Infrastruktur eingesetzt werden. In einem solchen Falle wird u. U. auch auf die Verteilungsautomatik der Marktwirtschaft zunächst verzichtet und an ihre Stelle eine planwirtschaftliche Verwaltung gesetzt werden müssen (20); auch dafür muß die Wissenschaft der Industrieländer die Grundlage schaffen. Ohne umfassende Unterrichtung und Ausbildung gibt es keine echte Entwicklung der unterversorgten Länder, sie ist Voraussetzung des Erfolges und wichtigster Bestandteil jeder Entwicklungshilfe. Je früher, je konsequenter und umfassender die Unterrichtung und Ausbildung durchgeführt wird, um so billiger und erfolgreicher wird die Entwicklungshilfe sein.
19 Um die geistige Infrastruktur in Funktion zu setzen, bedarf es der technischen Infrastruktur. Dazu gehören Verkehrs- und Nachrichtenapparat sowie medizinische, hygienische und soziale Einrichtungen, ferner Einrichtungen der Verwaltung (21), insbesondere der Wirtschafts- und Währungsverwaltung, sowie die Rechtsprechung. Die Eigenart der technischen Infrastruktur wird weitgehend durch die Aufgabe bestimmt, die bereits erwähnten vorgegebenen Nachteile, Insbesondere die Standortnachteile der unterversorgten Gebiete zu wenden oder zu kompensieren.
20 Auf der Grundlage einer ausreichenden geistigen und technischen Infrastruktur kann die dritte Aufgabe der Internationalen Wirtschaftshilfe bewältigt werden, die Wirtschaft in den unterversorgten Ländern in Gang zu setzen und diese Länder in die Weltwirtschaft einzugliedern. Zu der Aufbauhilfe tritt nunmehr die Funktionshilfe als diejenige Form der Entwicklungshilfe, welche die unterversorgten Länder zugleich in einen Status wirtschaftlicher Ebenbürtigkeit mit den Industrieländern überführen soll. Zur Funktionshilfe gehört neben der Errichtung einer überstaatlichen, den Internationalen Austausch ermöglichenden Infrastruktur und der Einbeziehung der unterversorgten Länder In Ihre Nutzung die Lieferung oder Abnahme von Waren oder Leistungen und die Hilfe bei der Errichtung wirtschaftlicher Unternehmen, Insbesondere die Lieferung von Produktionsmitteln und die Entsendung von Fachleuten, die Hilfe bei der Anknüpfung von Handels- und Dienstleistungsbeziehungen, die Gewährung von Darlehen und Garantien sowie u. U. auch die Investition von Kapital In den Entwicklungsländern.
21 Bei der internationalen Wirtschaftshilfe ist wohl zu unterscheiden zwischen einem echten, wirtschaftlich motivierten (synallagmatischen) Austausch zwischen Industrieländern und unterversorgten Ländern einerseits und der unentgeltlichen, altruistischen Hingabe von Kapital, Waren oder Leistungen andererseits. Hilfe und Geschäfte sind im allgemeinen Gegensätze, denn Hilfe wird ohne Gegenleistung erbracht. Der wirtschaftliche Austausch kann allerdings dann Hilfe sein, wenn dem autonomen Zustandekommen des Austauschs andere als wirtschaftliche, z. B. psychologische oder politische Hindernisse entgegenstehen. (22)
22 Im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung eines unterversorgten Landes wird im allgemeinen zunächst die unentgeltliche Hingabe von Wirtschaftsgütern als Entwicklungshilfe erforderlich sein. Dabei sind Maßnahmen der Funktionshilfe, Insbesondere eine Starthilfe für die unmittelbare Teilnahme eines unterversorgten Landes an der Weltwirtschaft erst sinnvoll, wenn die Infrastruktur dieses Landes einen gewissen Stand erreicht hat, weil erst In diesem Stadium die Voraussetzungen echten wirtschaftlichen Austauschs gegeben sind. „Hilfe", die vor diesem Entwicklungsstadium unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher Geschäfte „gewährt" wird, muß scheitern, weil das unterversorgte Land die angemessene Gegenleistung nicht ohne Schaden für seine Entwicklung erbringen kann. Sollen diese Folgen vermieden werden, so kann es sich nicht um echte Austauschgeschäfte, sondern nur um Hilfsmaßnahmen handeln, die lediglich unter der Bezeichnung von Austauschgeschäften abgewickelt werden, die in Wirklichkeit aber persiflierte Subventionen oder politische Geschenke darstellen. Politische „Hilfe" gleicht aber leicht der Therapie und der Pädagogik der Verführung. Die Anknüpfung von Austauschbeziehungen bildet die letzte Stufe der Funktionshilfe. Diese Stufenfolge wird leicht verfehlt. Die Illusion des Erfolges reizt dazu, die Mittel der letzten Stufe der Entwicklungshilfe überstürzt einzusetzen.
23 Zu den wirtschaftlichen Austauschgeschäften gehört auch die Kreditgewährung. Die Aufnahme eines Kredits Ist wirtschaftlich nur zu werbenden Zwecken sinnvoll. Kreditgewährung an ein unterversorgtes Land kommt deshalb erst In Frage, wenn die Infrastruktur des Landes die Rentabilität des Kapitaleinsatzes gewährleistet. So erscheint z.B. der Einsatz von Kapital in der Form der Kreditgewährung als verfrüht, wenn das Kapital der Finanzierung von Infrastrukturen dienen soll. Werke der Infrastruktur bringen im allgemeinen nicht unmittelbar wirtschaftlichen Ertrag; soweit sie Erträge zeitigen, sind diese bei Errichtung der Werke nicht annähernd mit einer ähnlichen Wahrscheinlichkeit kalkulierbar, wie das bei wirtschaftlichen Investitionen der Fall ist. Die Finanzierung von Werken der Infrastruktur kann daher für ein unterversorgtes Land nur insoweit eine wirkliche Hilfe darstellen, als damit eine Gegenleistung nicht verbunden ist. Die Errichtung einer Infrastruktur in einem unterversorgten Land ist deshalb kein wirtschaftliches Geschäft, dessen Partner dieses Land wäre. (Das schließt nicht aus, daß sich das Land verpflichtet, die Kosten der Infrastrukturleistungen Im Falle er- folgreicher Behebung des Versorgungsmangels und bei Eintritt einer entsprechenden Haushaltslage, sei es auch mit Zinsen, zu erstatten. Nur ist damit eben kein Kreditverhältnis begründet.) Sind die erwähnten Rentabilitätsvoraussetzungen gegeben, so wird das Kapital weitgehend ohne altruistische „Hilfe" auf dem Kapitalmarkt der Industrieländer beschafft werden können.
24 Unter diesem Gesichtspunkt sollte der Hilfswert der Direktinvestition ausländischen Kapitals durch Ausländer in Unternehmen, die in einem unterversorgten Land arbeiten, kritisch geprüft werden. Investition ist Geschäft im soeben erläuterten Sinne, ihr Ziel ist Gewinn. Bei Direktinvestitionen Im unterversorgten Land ziehen Angehörige des „helfenden" Landes im Erfolgsfall Gewinn aus einem Wirtschaftsvorgang, der im unterversorgten Land möglich ist und ertragreich verläuft. Ziel der Entwicklungshilfe ist aber, der Bevölkerung unterversorgter Länder Gewinnmöglichkeiten zu schaffen und nicht, die Bevölkerung dieser Länder aus solchen Chancen zu verdrängen. Ist in einem unterversorgten Land eine Gewinnmöglichkeit gegeben, so sollte ihre Nutzung diesem Land überlassen werden, denn der Erfolg einheimischer unternehmerischer Tätigkeit ist zugleich die wirksamste Werbung für Leistung und Aufbau. Mangelt es im unterversorgten Land an Kapital, so daß ertragversprechende Investitionen ohne ausländisches Geld unterbleiben, so sollten die helfenden Länder das Kapital als Kredit zur Verfügung stellen. Gegen Direktinvestitionen ausländischer Kapitalträger im unterversorgten Land spricht auch die unerwünschte Nebenwirkung soziologischer oder sogar politischer Überfremdung des unterversorgten Landes, die solche Engagements zeitigen. Allerdings ist denkbar, daß das „know-how" und das pädagogische Beispiel des ausländischen Unternehmers für die Entwicklung eines unterversorgten Landes so wertvoll sein kann, daß es den Verzicht auf die Ausnutzung einer Gewinnchance durch das unterversorgte Land lohnt. Ob das der Fall ist, sollte aber mit Vorsicht geprüft und nur mit Zurückhaltung bejaht werden.
25 Es scheint aber auch verfehlt, den Mangel der wirtschaftlichen Voraussetzungen, unter denen privates Kapital in unterversorgte Länder fließen würde, mit der Übernahme des Risikos für private "Kredite" durch einen Industriestaat zu vertuschen und an die Täuschung etwa noch die Hoffnung zu knüpfen, aus dem Schein marktwirtschaftlicher Kreditgewährung werde mit der Zelt eine Wirklichkeit werden, in der die Voraussetzungen echten Kredits tatsächlich vorliegen. Die Übernahme des Risikos für private Kredite durch den Staat beeinträchtigt die marktwirtschaftliche Determiniertheit der Kreditgewährung zwar insoweit nicht, als die Geldgeber durch die Staatsgarantie vor den rein politischen Gefahren dieses Geschäfts (z. B. Krieg, Revolution, Staatsstreich) geschützt werden. Soweit dagegen durch den Einsatz staatlicher Mittel auch wirtschaftliche Risiken aus der Kalkulation des privaten Geldgebers eliminiert werden, kommt die staatliche Unterstützung des Kapitalexports aus den Industrieländern in unterversorgte Länder wirtschaftlich der Kreditaufnahme des helfenden Staates im Inland und der Weitergabe des Kapitals unter nicht marktwirtschaftlichen Bedingungen an das unterversorgte Land gleich mit der Besonderheit, daß ein etwaiger Gewinn aus diesem "Geschäft" nicht dem das Risiko tragenden Staat, sondern dem vom Risiko freigestellten Geldgeber zufließt (23). Ein solcher Kredit ist dem Umfang der staatlichen Garantie entsprechend anteilig Subvention des helfenden Staates an das unterversorgte Land und ersetzt eine Leistung, die zu Marktbedingungen nicht zustande kommen kann. Hier liegt, was die Leistung an das unterversorgte Land betrifft, kein Geschäft, sondern echte (staatliche) Hilfe vor. Das darf aber auch nicht aus Rücksichtnahme auf das Selbstbewußtsein des unterversorgten Landes verschleiert werden. Wirkliche Entwicklung und erfolgreiche Einordnung des unterversorgten Landes in die Weltwirtschaft setzt nämlich klare Kenntnis der jeweiligen wirtschaftlichen Gegebenheiten voraus, die dessen Lage beeinflussen.
26 Weil sie den Umfang der heteronomen Verteilungsmaßnahmen (Hilfeleistungen) und den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Wirkungen und außerwirtschaftlichen Ursachen verschleiern, sind auch Mischformen zwischen wirtschaftlicher Kommunikation mit den Entwicklungsländern und der Hilfeleistung an diese Länder nicht wünschenswert. Leider erfreut sich gerade diese Form der gemischten Wirtschaftshilfe im internationalen Bereich einer ebenso großen Beliebtheit wie sie diese als nationale Wirtschaftslenkungs- oder Verteilungsmaßnahme genießt. Selbstverständlich ist dagegen, daß sich die vorstehend beschriebenen, theoretisch getrennten Abschnitte der Entwicklungshilfe in der Praxis überschneiden können. Entwicklungshilfe ist ebenso wie Nothilfe subsidär. Wie Nothilfe nur insoweit zu gewähren ist, als die Hilfsbedürftigen sich das Existenzminimum nicht selbst verschaffen können, sind Aufbau- und Funktionshilfe nur zu leisten, soweit die Voraussetzungen selbständiger Aufbauleistung oder der Teilnahme der unterversorgten Länder am Leistungsaustausch des Weltmarktes nicht gegeben sind. Soweit der Stand der Infrastruktur des unterversorgten Landes echtes Wirtschaften zuläßt, sollte dies der einheimischen Bevölkerung überlassen werden. Wo Kredite zu Marktbedingungen und Investitionen überhaupt wirtschaftlich sinnvoll sind, sollte das Kapital nach Möglichkeit im Entwicklungsland selbst aufgebracht werden (24). Es ist nicht Sache der internationalen Wirtschaftshilfe, den Überflußländern einen Anteil an dem Gewinn der Wirtschaft in den unterversorgten Gebieten zu verschaffen, solange diese Gebiete noch nicht in die Weltwirtschaft eingegliedert sind, d. h, solange sie noch nicht im Stande sind, durch Austausch auf dem Weltmarkt den ihrem Leistungswillen und ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden Güteranteil zu erwerben. Ein solches Teilhaben würde ebenso wie ein Verlangen nach Wirtschaftsethos als Neokolonialismus angesehen werden, der sich des kapitalistischen Ausbeutungsinstrumentariums bedient (25). Auch die Kreditgewährung ist solange nur eine Form kolonialistischer Ausbeutung, als nicht eine gewisse wirtschaftliche Gleichheit zwischen Geberland und Nehmerland hergestellt ist (26). Einziger legitimer wirtschaftlicher Gewinn der Industrieländer aus der Internationalen Wirtschaftshilfe ist der Wirtschaftsverkehr mit neu erschlossenen Partnern nach erfolgreichem Abschluß der geförderten Entwicklung (27). Internationale Wirtschaftshilfe, die nicht am Subsidiaritätsprinzip orientiert ist, ist keine Not- oder Entwicklungshilfe, sondern ein Mittel zur Ausbeutung oder zur Erreichung politischer Zwecke.
27 Sind Ziele und Inhalt internationaler Wirtschaftshilfe festgelegt, so ist ihre Organisation zu erwägen.
28 Die Organisation der Nothilfe ist verhältnismäßig einfach. Die zur Aufrechterhaltung des Existenzminimums erforderli chen Güter werden den Bedürftigen unmittelbar oder über die Verwaltung des unterversorgten Landes unentgeltlich zugeführt. Das Problem einer Organisation der Nothilfe haben Gliederungen der Vereinten Nationen, z.B. die "World Health Organization", die “Food and Agriculture Organization” und der “United Nations Children's Fund", sowie das amerikanische Friedenskorps (*) für Teilbereiche bereits bewältigt. Das Schema dieser Einrichtungen ist übertragbar. Die Durchführung der Nothilfe erscheint im wesentlichen als ein Problem der Bereitschaft und der Finanzierung. Da die Art der Gewährung der Nothilfe von wirtschafts- und sozialpolitischen Überzeugungen weitgehend unabhängig ist, ergibt sich bei dieser Form internationaler Wirtschaftshilfe vielleicht am ehestens die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen West und Ost. Es lohnt vielleicht auch, sich zu vergegenwärtigen, wie ähnlich die rein technischen Probleme der Nothilfe gewissen militärischen Aufgaben sind. Erfordert werden Versorgungsleistungen über weite, schwierige Strecken unter Strapazen und Gefahren für das dazu eingesetzte Personal. Diese Ähnlichkeit mag eines Tages Abrüstungsverhandlungen erleichtern.
29 Wesentlich schwieriger und komplizierter ist die Organisation der Entwicklungshilfe. Für die Vermittlung geistiger Infrastruktur bieten die United Nations Educational, Scientifical and Cultural Organisation und in der Bundesrepublik die Carl Duisberg Gesellschaft für Nachwuchsförderung sowie die Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer ein Beispiel. Von kaum schätzbarer, großer Bedeutung ist die schon seit einigen Jahren im Stillen geleistete Arbeit der Universitäten in den Industrieländern zugunsten der Studenten aus den unterversorgten Ländern. Die Aufgaben der Entwicklungshilfe gehen jedoch über die Möglichkeiten dieser Organisationen und Institutionen weit hinaus. Sie erfordern umfangreiche Vorbereitungen innerhalb der Industrieländer, nämlich die Formulierung der zu vermittelnden Lehre, die Planung des Unterrichts und der Ausbildung der unterversorgten Völker und die Schulung des Lehrpersonals. Die Planung des Inhalts und der Durchführung geistiger Infrastruktur der unterversorgten Länder sollte unter zumindest maßgeblicher Mitarbeit, wenn irgend möglich aber sogar unter der Leitung der unterversorgten Länder selbst und im übrigen nur im Wege Internationaler Zusammenarbeit erfolgen.
30 Auch die Errichtung der technischen Infrastruktur und die Einordnung der unterversorgten Länder in die Weltwirtschaft setzt eine umfassende, weltweite Planung voraus( 28).
31 Zunächst ist eine Prognose zu erarbeiten, welche Leistungen von den weniger versorgten Ländern auf Grund ihres natürlichen und menschlichen Potentials auf die Dauer erwartet werden können. Das erfordert eine genaue Analyse der natürlichen und menschlichen Ressourcen, welche in diesen Ländern zur Verfügung stehen (29). Dabei ist die potentielle zukünftige Nachfrage nach Leistungen der unterversorgten Völker aus diesen Gebieten selbst und aus den Industrieländern sowie die Verkehrslage der unterversorgten Länder zu berücksichtigen. Ferner ist zu prüfen, auf welche technische und organisatorische Weise diese Leistungen realisiert werden können. Dabei ist insbesondere unter Verwertung soziologischer und psychologischer Studien zu ermitteln, inwieweit das marktwirtschaftliche System samt einer ihm entsprechenden Rechtsordnung in diesen Ländern eingeführt werden kann und inwieweit es anderer Organisationsformen bedarf. Das Ergebnis wird natürlich von den politischen Tatsachen in diesen Ländern entscheidend mitbestimmt sein, deren Selbstbestimmung gewährleistet bleiben muß. Diese komplexe analytische Aufgabe kann nur von vielen Wissenschaften gemeinsam bewältigt werden (30).
32 Pläne der Entwicklungshilfe können, wenn sie durchführbar sein und Aussicht auf Erfolg haben sollen, nur gemeinschaftlich, übernational (31) und unter maßgeblicher Mitwirkung der unterversorgten Völker (32) erarbeitet werden. Insofern ist die Frage, ob die internationale Wirtschaftshilfe national oder international administriert werden sollte, m. E. eindeutig zugunsten der internationalen Hilfe zu beantworten. Höchstens ist denkbar, daß die Planung zunächst von einer Nationengruppe gewissermaßen stellvertretend in einer Weise vorangetrieben wird, die spätere Änderungen gestattet. Das Ziel aber muß eine weltweite Organisation sein, als deren Träger sich die Vereinten Nationen anbieten (33). Solange dieses Ziel aus politischen Gründen nicht erreichbar ist, sollte die Entwicklungsplanung Aufgabe der jeweils größten für diese Aufgabe tragfähigen internationalen Wirtschaftsorganisationen sein; als solche Organisationen erscheinen für den Westen zur Zelt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und ihr Ausschuß, der Entwicklungshilfe-Rat (DAC), sowie der Entwicklungsfonds der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für überseeische Länder und Hoheitsgebiete.
33 Der Planung müssen der Ausbau der technischen und wirtschaftlichen Infrastruktur des weltweiten Verteilungssystems und die Funktionshilfe folgen. Diese praktischen Aufgaben dürften mit den Mitteln und in den Formen der marktwirtschaftlich verfaßten Industrieländer erfüllt werden können. Damit befassen sich neben den einzelnen Industrieländern schon gegenwärtig die Sonderfonds der Vereinten Nationen und das Erweiterte Technische Beistandsprogramm dieser Organisation sowie die OECD und die DAC. Mit marktwirtschaftlichen oder ähnlichen Hilfsmaßnahmen sind ferner die Weltbank und ihre Tochterorganisation, die internationale Entwicklungsorganisation und die internationale Finanz-Corporation betraut.
34 Theorien sind dem Grad ihrer Abstraktheit entsprechend unpraktisch. Theoretische Erkenntnis ist dem Grad ihrer Schärfe entsprechend einseitig, eindimensional oder punktuell. Ihre Anwendung setzt daher die Synthese der zuvor durch Zergliederung gewonnenen Ergebnisse voraus. Berücksichtigt man zudem das antinomische Verhältnis der Idee zur Wirklichkeit, so wird erklärlich, weshalb einzelne theoretische Sätze sich von vornherein einer konsequenten Verwirklichung zu entziehen scheinen und dennoch - sofern sie richtig sind - als Leitvorstellungen in jeder auf ihre Verwirklichung gerichteten Maßnahme voll zur Geltung kommen müssen. Das muß man bei der Prüfung und Anwendung der vorstehenden Erwägungen berücksichtigen.

Fußnoten (1963)

(1) [Wilhelm] Röpke, Die unentwickelten Länder als wirtschaftliches, soziales und gesellschaftliches Problem, in: Entwicklungsländer, Wahn und Wirklichkeit, 1961, S. 11 ff, 14, vergleicht die Ansprüche der unterversorgten Länder auf die Einholung des Reichtumsvorsprungs der Industrieländer mit der Idee des Wohlfahrtsstaates; vgl. auch ders. aaO. S. 59.
(2) Eine ähnliche Dreiteilung findet sich auch bei Donner, Unbehagen über die Entwicklungshilfe, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 179 vom 4. August 1962, S. 5, und bei [Paulwalter]Conzelmann, Probleme der Entwicklungsförderung, Schmollers Jahrbuch 1960, S. 565, 572 f; vgl. auch Röpke, aaO. S. 17.
(3) Vgl. z. B. die Verlautbarung des wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums über das Ziel der Entwicklungshilfe im Bundesanzeiger Nr. 29 vom 12. Februar 1960, S. 4: Ziel der Entwicklungshilfe ist eine bessere weltweite Einkommensverteilung; vgl. auch die Antwort des Bundesaußenministers von Brentano auf die große Anfrage der SPD-Fraktion des Bundestages zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung in der 159. Sitzung des 3. Bundestages vom 5. Mai 1961, Stenographische Berichte S. 9217, 9218 B.
(4) Vgl. [Walter] Hallstein, Europäische Afrikapolitik, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Mai 1961, Nr. 108, S. 11, sowie Conzelmann, aaO. S.573.
(5) Vgl. Conzelmann, aaO. S. 567.
(6) Vgl. die Rede von Bundeswirtschaftsminister Erhard im Westdeutschen Rundfunk vom 22. April 1961, sowie [Hellmut] Kalbitzer, Entwicklungsländer und Weltmächte, 1961, S. 46.
(7) Vgl. Nr. 2 der Botschaft des Präsidenten der USA Kennedy vom 22. März 1961: Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch der weniger entwickelten Länder wäre für unsere nationale Sicherheit verheerend, würde sich nachteilig auf unseren Wohlstand auswirken und unserem Gewissen zuwiderlaufen.
(8) Vgl. Conzelmann, aaO. S. 572, und das dort abgedruckte Zitat von Stevensen.
(9) Vgl. den zweiten Abschnitt der Sozialenzyklika Papst Johannes XXIII vom 15. Mai 1961.
(10) Vgl. Seemann, Entwicklungshilfe und Wirtschaftsordnung der Entwicklungsländer, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, 1961, S. 1048.
(11) Vgl. Conzelmann, aaO. S. 574.
(12) Vgl. Röpke. aaO. S. 36 f.
(13) Vgl. Röpke. aaO. S. 24 f.
(14) Hier wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß auch im Falle der unterentwickelten Länder eine sich auf Funktionen des Marktes, des Wettbewerbs und des freien Preismechanismus stützende Wirtschaftsordnung der sozialistischen überlegen ist- - so Röpke. aaO. S. 61 - und daß diese Ordnung daher zumindest Fernziel jeder Entwicklungshilfe ist.
(15) Vgl. Hallstein, aaO.: Entwicklungshilfe bedeutet, gewisse Länder in den Stand zu versetzen, mit uns "in völliger Gleichheit wirtschaftlich zu kooperieren".
(16) Vgl. Röpke, aaO. S. 27, 30; [John Kenneth] Galbraith, Eine neue Konzeption der Entwicklungshilfe, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 1961, S. 11, 12.
(17) Zur Ausbildungsaufgabe vgl. den zweiten Teil der Erklärung des Bundesaußenministers von Brentano vom 5. Moi 1961,aaO. S. 9219 f. und Kalbitzer, aaO. S. 74.
(18) Vgl. Conzelmann, aaO. S. 575 f. und S. 599.
(19) Vgl. Galbraith, aaO. S. 15, 19.
(20) Vgl. Kalbitzer, aaO. S. 47; Seemann, aaO. S. 1049 f, weist darauf hin, daß insbesondere die Beschränktheit des für die Entwicklung zur Verfügung stehenden Zeitraumes vielfach den Einsatz planwirtschaftlicher Mittel erzwingt.
(21) Das betonen Donner, aaO. sowie Kalbitzer, aaO. S. 51; vgl. auch Galbraith, aaO. S. 13.
(22) Keine „Hilfe“ sondern marktmäßiges Verhalten ist das Unterlassen gegen die unterversorgten Länder gerichteter protektionistischer Maßnahmen, vgl. Röpke, aaO. S. 40; Kalbitzer, aaO. S. 60 ff, und Conzelmann, aaO. S. 594.
(23) Vgl. Kalbitzer, aaO. S. 66: es ist irreführend, derart abgesichertes Kapital noch als Privatkapital zu bezeichnen.
(24) Hier befinde ich mich vielleicht in einem gewissen Gegenstz zu Conzelmann, aaO. S. 578; vgl. aber Galbraith, aaO. S. 19.
(25) Vgl. Kalbitzer, aaO. S. 62: "Wer helfen will, muß vor allen Dingen erst aufhören auszubeuten".
(26) Vgl. Galbraith, aaO. S. 16, 19.
(27) Siehe Conzelmann, aaO. S. 573 und S. 595.
(28) So Conzelmann, aaO. S. 582, desgl. Galbraith, aaO. S. 19.
(29) Siehe Conzelmann, aaO. S. 584.
(30) Vgl. Conzelmann, aaO. S. 603.
(31) Unter diesem Gesichtspunkt bestehen Bedenken gegen den Vorschlag einer neuen Entwicklungshilfe-Planungsbehörde der USA nach Galbraith, aaO. S. 20.
(32) So auch Galbraith, aaO. S. 20.
(33) Vgl. Kalbitzer, aaO. S. 73; Röpke, aaO. S. 71, nennt es allerdings den "Gipfel der Torheit", die Organisation der Entwicklungshilfe den Vereinten Nationen zu überlassen.
(*) Erläuterung anläßlich der Aufnahme in die homepage pro-re-publica im Oktober, 2013: Das „Peace Corps“ ist eine 1961 von John F. Kennedy initiierte „Federal Agency“ der USA, in der sich Freiwillige verpflichten, 27 Monate im Ausland tätig zu sein. Es soll interessierten Ländern zu Fachkräften verhelfen, mehr Verständnis bei den US-Amerikanern gegenüber den Menschen, denen geholfen werden soll, und bei fremden Völkern für US-Amerikaner wecken. Mehr als 200.000 US-Amerikaner haben im Friedenscorps gedient.

Nachträgliche Anmerkungen / Later Observations

Mit dem Vorwurf einer "Ausbeutung" von Entwicklungsländern ist vorsichtigt umzugehen. Beispielsweise liegt ein Absatz ihrer Waren oder Leistungen in den Industrieländern zu geringeren Preisen, als diese etwa untereinander zahlen, im Interesse der Entwicklungsländer, wenn die Preisgestaltung Folge der höheren Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder ist.
2015 Noch im Jahr 2015 soll nach einem Bericht von Hendrik Ankenbrand in der FAZ vlom 19.4.2015 Chinas "Asdiatische Infrastruktur- Investmentbank (AIIB)" mit einem Startkapital von 50 Milliarden Dollar damit beginnen, ganz ähnlich wie die Mutter aller Entwicklungsbanken in Washington, Kredite für Infrastrukturvorhaben in Entwicklungsländern zu geben. Amerika und Japan haben sich nicht um Aufnahme in die AIIB beworben sondern andere Länder bedrängt, sich von ihr wegen der Gefahr der Verletzung von Menschenrechten im Zuge der Vorhabenverwirklichung fernzuhalten. Nach dem Vorbild von Großbritannien sind Deutschland, Italien und Frankreich dem nicht gefolgt sondern beteiligen sich an der AIIB, wohl auch weil sie davon ausgehen, dass Kreditvaluta an ihre (Bau-) Unternehmen zurückfließt.


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